PARANOIA IM PARADIES
In den Megastädten der Südhalbkugel flüchten die Reichen in luxuriöse Wohnfestungen. Die Zitadellen verheissen Sicherheit, Ruhe, reine Luft und viel Grün. Aber sie stiften keinen Seelenfrieden. Mit den Mauern wächst die Angst.

Bartholomäus Grill


Willkommen! Treten Sie ein! "Werden Sie Teil einer Gemeinschaft von Menschen, die wie Sie das Landleben in einer sicheren, natürlichen Umwelt vorziehen, die mit dem Ruf des Kiebitz einschlummern und mit dem leisen Gemurmel des Jukskei-Flusses aufwachen wollen."

Das Arkadien, angepriesen auf Hochglanzbögen, heißt Dainfern. Es liegt im Nordosten Johannesburgs, 25 Kilometer entfernt vom grauen, unwirtlichen Zentrum der Metropole Südafrikas: 300 Hektar groß, von 60 Wächtern und 56 Kameras rund um die Uhr observiert, umfriedet von einem 7.5 Kilometer langen Zingel aus Stahlpalisaden und Mauern, auf deren Kronen acht Stromleitungen knistern. Ein Schutzwall auf freier Flur, anheimelnd wie die deutsch-deutsche Zonengrenze. Er trennt Afrika und Europa.

Diesseits der Mauer dürrer Busch, grasende Höckerrinder. Jenseits eine sanfte Talmulde, Silberweiden, Eichen, Blumenrabatten. Sardinische Villen, Landhäuser im Tudor-Stil, Fachwerk, Pastelltöne. Sherwood, Hampstead, Highgate, Viertel mit englischen Namen. Die Straßen und Trottoirs picobello. Ein Städtchen so adrett, wohlgeordnet und keimfrei wie auf der Modelleisenbahn.

Wir halten an der Zufahrt zu Carmel, einem Wohnkomplex nach kalifornischer Art. Im nächsten Moment surrt ein Elektroauto herbei. Wen suchen Sie? Mister Corrigan? Ihren Besucherpass bitte! Zwei argwöhnische Wachleute in preußisch-blauen Uniformen.

"Sicherheit ist das allerwichtigste Kriterium für Käufer", verrät Alan Corrigan, der Generalmanager von Dainfern. "Dann kommt Bewegungsfreiheit, dann die gesunde Umwelt und die Ruhe." In Dainfern wohnen Stadtflüchtlinge. Sie wurden von der Angst vor der Kriminalität an die Peripherie getrieben, vom Lärm und von den Abgasen, von den sinkenden Standards der öffentlichen Dienste und der allgemeinen Verwahrlosung.

"Ich will nie wieder diese Todesangst haben", sagt Wayne B., dessen Familie nach einem bewaffneten Raubüberfall hierher gezogen ist. Er möchte seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. "Es wird genug Schlechtes über uns geredet. Getto der Millionäre und so..." Wir treffen den Unternehmer beim Fünf-Uhr-Tee im neokolonialen Country Club in der Mitte des Golfplatzes. Ein paar alte Ladies putten am Green neben der Terrasse, Spaziergänger schlendern hinunter in die Flußaue, Dreiräder rattern. Dörfliche Beschaulichkeit allum.

"Ist das nicht wie im Disneyland?" schwärmt B. "Hier fühlen wir uns sicher. Stellen Sie sich vor, unsere Kinder können sogar im Dunkeln mit dem Fahrrad ihre Freunde besuchen. Nachts müssen wir nicht mal die Haustür zusperren." Infrastruktur, soziales Klima, Lebensqualität, "alles erstklassig". Und exklusiv: Die Aufnahmegebühr für das College beträgt 43.000 Rand, knapp 14 000 Mark.

"Es ist wie eine Therapie hier", sagt B. "Unsere Angst geht langsam weg."

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Dainfern ist eine Zitadelle. Sie schützt ihre Bewohner vor den Zumutungen der Dritten Welt.

"Zitadellen waren Festungen, von denen aus Städte, Zentren des Handels, der Kultur und der Macht, nach außen gegen die Angriffe von Feinden verteidigt und nach innen vor dem Aufstand ihrer eigenen Bewohner gesichert wurden", schreibt Otto Karl Werckmeister. Der Kunsthistoriker prägte 1985 den Begriff Zitadellengesellschaft, in der "wachsende Minderheiten vom optimalen Lebensstandard ausgeschlossen, unterbezahlt, arbeitslos, verelendet, deklassiert, politisch fest- und abgeschrieben" bleiben. Werckmeister lehrte damals mittelalterliche Kunstgeschichte in Evanston, Illinois und fand nebenan, in Chicago, reichlich Anschauung für sein historisches Sinnbild.

15 Jahre später warnt der Entwicklungsreport der Vereinten Nationen, die Welt werde ein "gefährlich ungleicher Ort". Ein im Zuge der Globalisierung enthemmter Kapitalismus schließt immer mehr erwerbsfähige Menschen vom Wirtschaftsleben aus. Die Marginalisierten sind unterdessen zu einem Milliardenheer angeschwollen, vor dem sich die Minderheit der wohlhabenden Bürger in hermetisch gesicherte Wohnfestungen zurückzieht. Allein in den USA leben bereits acht Millionen Menschen in derartigen Luxus- enklaven. Vor allem aber in den Megastädten der Südhalbkugel, wo der Graben zwischen arm und reich am tiefsten ist, wuchern die Zitadellen. Doch je höher die Privilegierten die Mauern bauen, desto größer werden ihre Ängste. Vor den Massen der Arbeitslosen. Vor dem Neid der Habenichtse. Vor dem Verbrechen. Vor der Rache der Armut.

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"Dainfern ist irgendwie unreal, künstlich", sagt Wayne B. "Wir spüren das immer, wenn wir hinausfahren." Hinaus in die Welt jenseits der Mauern, wo die Höckerrinder grasen, wo dicke schwarze Frauen Bündel auf dem Kopf balancieren und an den Straßenkreuzungen zwielichtige Gestalten herumlungern. Da muß man durch, um in die nächste Sicherheitszone zu gelangen, in die fünf Kilometer entfernte Shopping Mall.

"Gleich hinter Dainfern liegt eine location, so eine Schwarzensiedlung, Sie wissen schon. Dort wachsen die Kriminellen nach. Die kreisen um unseren Honigtopf, wie meine Frau immer sagt." Der erste Raubüberfall vor zwei Jahren löste in Dainfern einen kollektiven Schock aus. "Eigentlich brauchen wir hier ein Mobiles Einsatzkommando", sagt B und fügt lachend hinzu: "Und vielleicht noch Selbstschußanlagen und Minengürtel". Es ist ein gezwungenes, makabres Lachen. Denn B., der viel über Sicherheit nachdenkt, weiß natürlich, daß die beste Wehrtechnik nichts gegen den inneren Feind nützt, gegen die unzufriedene Maid oder den undankbaren Gärtner. "Die stecken oft mit den Gangstern unter einer Decke. Im Grunde ist jede schwarze Arbeitskraft ein Risikofaktor."

Die Angst ist in einem anderen Gewande zurückgekehrt. Aber B. würde das nie zugeben.

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Anschrift? Telefonnummer? Auto-Kennzeichen? Zu wem wollen Sie? Haben Sie einen Termin? Forbes-Park ist ein Déjà-vu von Dainfern: Kasernenzufahrt, Wachposten, brüsker Tonfall. Kein unangemeldeter Besuch! Hier residiert der Geldadel von
Manila. Und ausländische Spitzenverdiener, die sich die Monatsmieten von bis zu 200 000 Pesos, rund 10 000 Mark, leisten können. Dafür leben sie so unangreifbar wie weiland die spanischen Kolonialherren auf der Feste im Stadtzentrum: Intramuros. Innerhalb der Mauern.

Etliche Bewohner, in den 60er und 70er Jahren durch den Kahlschlag der philippinischen Regenwälder reich geworden, mischten sich neulich unter die 400 Leute, die für die Rettung der Bäume an der McKinley Road demonstrierten. Schließlich will man nicht, daß die Durchgangsstraße im Forbes- Park so kahl und trist aussieht wie die üblichen Betonschneisen in der 13-Millionen-Metropole.

Man will überhaupt nicht erinnert werden an das urbane Monster Manila. An den apokalytischen Verkehr und die verseuchten Gewässer. An die tuberkulösen Säuglinge und ihre ausgezehrten Mütter. An die Gangster, die regelmäßig Schulkinder und Geschäftsleute entführen. An die Legionen von garbage- pickers, Müllsammlern, die draußen in Payata auf kokelnden Abfallbergen dahinvegetieren. Villages, Dörfer, nennen die Reichen ihre Wohnburgen - als lebten sie in einer Anti-Stadt, die die Widersprüche der Außenwelt auslöscht.

"Solidarität? Verantwortungsgefühl?" Marie Dacanay, Expertin für Entwicklungs- fragen, schüttelt den Kopf. "So etwas gibt es nur innerhalb der Mauern." Die zwölf Kilometer vom Finanzdistrikt Makati zu ihrem Büro in Quezon City kosten uns zwei Stunden. Wir schaffen nicht einmal das halbe Durch- schnittstempo im Großraum Manila: Hier bewegt sich ein Auto so zügig wie ein Ochsenkarren - mit 12 km/h. Die Hauptarterie Epifanio de los Santos ist heillos verstopft. Motorengedröhn, Geschrei, kriegerische Fahrweise. Unzählige Baustellen, Arbeiter mit Atemschutzmasken. In den Fahrzeugen neben uns wird gegessen, telefoniert, gefaxt, an Laptops gearbeitet: das mobile Büro, festgefahren im Stau. "Viele nehmen auch Pisstüten mit", erzählt der Fahrer.

Metro Manila: Täglich vier Millionen Pendler - und kein Massentransportsystem, das den Namen verdiente. Ein abstoßender Moloch, zu schnell, zu unkontrolliert gewachsen, übervölkert. Ein unwiderstehlicher Magnet, der Jahr für Jahr 300 000 Landflüchtlinge anzieht. Sie landen in der Regel in squatter areas, in Payatas oder Bagong Silang oder in irgendeiner anderen der wilden Siedlungen, die sich wie Mikrobenherde ausbreiten.

Wer viel Glück und beste Empfehlungen hat, schafft den Sprung in die Zitadellen von Dasmarinas, Corinthian oder Forbes- Park - als Wächter, Putzfrau oder Kindermädchen. "Sie müssen sich vorkommen wie im Paradies", glaubt Henk S., ein Soziologe aus Holland. Auch er will anonym bleiben. "Sonst bekäme man von den linken Freunden in Europa nur zu hören, wir würden uns sozial absondern."

Henk S. ist "Alabangianer", Mieter in Ayala Alabang. Er bewohnt mit seiner Frau und den beiden Kindern eines der kleineren Häuser: knapp 300 Quadratmeter Wohnfläche, sieben Bäder, viel Licht und Luft. Ringsum alter Baumbestand, Architektur von Bauhaus bis Schwarzwaldvilla, stille, breite Straßen, durch die man am Abend den passionierten Radfahrer Henk S. sausen sieht. "Das Verkehrschaos, die Drecksluft, der Ellenbogen-Alltag - für uns als Europäer war von vornherein klar, daß wir in ein Village ziehen", sagt er.

Früher hätte der Widerspruch, auf einer Wohlstandsinsel im Meer der Armut zu leben, sein sozialdemokratisches Gewissen belastet. "Aber man wird älter. Man hat Kinder und will einigermaßen angenehm, sicher und stressfrei wohnen." Vorbei die Zeit, in der man sich als Entwicklungshelfer dem solidarischen Zwang unterwarf, möglichst nah an der Armut zu leben. "Als ob man dadurch effektiver wäre... das ist doch naiv."

Natürlich stört S., daß innerhalb der Mauern von Ayala Alabang vordemokratische Verhältnisse herrschen; den Vorstand, der alle öffentlichen Angelegenheiten regelt, dürfen zum Beispiel nur Grundbesitzer wählen. "Das muß man akzeptieren. Genauso wie die 16 000 Pesos für das Wehrkonzept, die ich jedes Jahr an die Verwaltung zahlen muß. Aber wir fühlen uns wohl hier." Nur manchmal, in grüblerischen
Momenten, fragt er sich, "warum die Armut nicht längst zum Angriff auf die Zitadellen geblasen hat."

***

Marta Suplicy steckt der Jet-lag noch in den Knochen. Sie ist gerade von einer Konferenz auf den Philippinen heimgekehrt. "Ja, ja, Manila... das ist schlimmer als unser Sao Paulo. Viel schlimmer." Natürlich läßt die Sozialdemokratin nichts über ihre Heimatstadt kommen - sie will demnächst Bürgermeisterin werden. Zehn Stunden später, erschöpft von einem hektischen Wahlkampf-Tag, wird sie einräumen, daß die beiden Riesenstädte deckungsgleiche Probleme haben: Verkehrsinfarkt, Umweltzerstörung, Kriminalität, wachsende Armut. Der Unterschied: Der Zwanzig-Millionen-Moloch Sao Paulo ist viel größer als Manila, und seine Gegensätze sind noch extremer.

Der Blick wandert über eine unermeßliche Zahl von Wolkenkratzern, Hochhäusern, Wohntürmen. Es scheint, als wüchsen Gebirge aus Stahl und Beton aus der Asphaltebene in die immergraue Himmelsplatte. Durch 140 000 Straßen winden sich endlose Blechlawinen, bis zu 5 Millionen Autos täglich. "Die Stadt entwickelte sich mit solcher Geschwindigkeit, daß es unmöglich ist, sich einen Stadtplan zu besorgen: Jede Woche müßte eine neue Ausgabe erscheinen", notierte der Ethnologe Claude Levi-Strauss anno 1935. Der heutige Stadtplan ist 1216 Seiten dick.

"Man muß nur die Verbindungen zwischen den Inseln kennen", erklärt Michael Bamberg. "Die Leute springen von ihrer Wohninsel zum Golfspielen auf die Sportinsel. Die Kinder werden auf Schulinseln chauffiert. Nach Dienstschluß geht man von der Arbeitsinsel auf die Einkaufinsel." Bamberg, einer der erfolgreichsten Immobilienmakler Brasiliens, handelt mit Büroinseln.

Die Reichen bewegen sich in gepanzerten Fahrzeugen durch diese Inselwelt. "Mit 32-mm-Glas, kalaschnikoff-fest", betont der Verkäufer der Firma GS-Security, die pro Monat 14 bis 18 Autos aufrüstet, für 30 000 Dollar das Stück. Die Superreichen fliegen nur noch über das urbane Archipel. Sampa, wie die Paulistas ihre Stadt nennen, hat die höchste Hubschrauberdichte auf der Südhalbkugel. In den Stoßzeiten, wenn Schwärme von Helicoptern durchs die Betonschluchten knattern, denkt man an den futuristischen Film Blade Runner.

"Die Stadt ist einfach explodiert", sagt Bamberg. "Entscheidend für ihre Zukunft ist, ob die Zuwanderung gedrosselt werden kann." Alle drei Jahre werden es nahezu eine Million Einwohner mehr, überwiegend Nordestinos aus dem kargen, rückständigen, Nordosten des Landes. Im Fachblatt Latin Trade, das in Bambergs Vorzimmer ausliegt, lesen wir: "Die Wirtschaftliberalen von Argentinien bis Mexiko haben behauptet, ihre Programme würden die Armut vermindern und Jobs schaffen. Die vergangenen zehn Jahre bewiesen das Gegen- teil. Die Kluft zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen wächst schneller denn je."

Wann immer die Mieter im Edificio Roof Nr. 3975, einem Wohnkomplex im Viertel Morumbi, auf ihre begrünten Balkone treten, werden sie an das perverse soziale Gefälle in ihrer Stadt erinnert. Sie schauen auf Blechverschläge, Holzhütten, Wohnwaben aus Pappe, auf verschlammte Wege und vermüllte Rinnsale. Manchmal trägt der Wind den Gestank von Fäkalien und Fäulnis herauf, und nachts hören sie gelegentlich Schüsse bellen. Sie wissen nichts von der Welt dort unten, obwohl sie nur eine Mauer, ein Zaun, ein Graben, ein Wachturm von der ihren trennt.

Denn die Domestiken kommen aus dem Feindesland. Und sie wollen - man kann es in den revolutionären Schriften Frantz Fanons nachlesen - in die Swimmingpools und Seidenbetten der Elite springen.

Einen Steinwurf von ihrer Haustür entfernt stürzt die Rua Alonso de Oliviera Santos, ein zerklüfteter, ungeteerter Pfad, hinab in die Favela. Von hier unten gleicht der Wohnturm Nr. 3975 einem Bergfried, wuchtig und uneinnehmbar, aber verheißungsvoll. Denn die Besitzlosen wissen sehr genau, wie die dort oben wohnen: Sie arbeiten als Domestiken in den Zitadellen. Und in den Telenovelas, den Seifenopern im Fernsehen, sehen sie jeden Tag die Seelennöte der Schönen und Reichen. Aber in die höheren Etagen steigen nur die Drachen auf, die die Buben aus der Favela bauen...

Rio Verde, grüner Fluß, eine Straßenschänke, zehn, zwölf Betongebirgszüge weiter. Das Rinnsal neben der Bar ist tatsächlich grün - algengrün, gallengrün. Zwischen den windschiefen Stelzenhütten auf den Uferkanten blitzen gläserne Fassaden: Der Büroturm der BNC-Bank, daneben das protzige World Trade Centre, zwei Zitadellen des Kapitals.

Elend neben Luxus. Not mitten im Überfluss. "Eine Schweiz, von drei Biafras umgeben", sagt Erzbischof Arns. Die Männer, die im Rio Verde Cachaca trinken, den Nationalschnaps aus Zuckerrohr, nehmen die scharfen Kontraste nicht mehr wahr. Sie schauen uns nur fragend an. Es ist, als würden sich die topographischen Extreme der Stadt im Bewußtsein ihrer Bewohner als soziale Hierarchie abbilden, als unabänderliches Herr-Knecht- Verhältnis.

Ein junger Mann arbeitet sich im Rollstuhl durch die lehmige Gasse. "Der wurde von der Polizei zum Krüppel geschossen", meint Marcos Aurelio. Er lebt in der Favela Real Parque und arbeitet als Hauswart in einer Schönheitsklinik. "Es hätte aber ebenso eine Gang sein können. Nachts ist man hier immer in Gefahr, in eine Kugel zu laufen."

In Sao Paulo wurden allein im Jahr 1999 5900 Menschen umgebracht. Die meisten Mordopfer lassen in den Favelas ihr Leben, in den genau abgesteckten Revieren der Banden. Die Armut ist, wie in allen Slums der Welt, ein unerschöpfliches Reservoir für die organisierte Kriminalität.

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Crime nao tem idade. "Das Verbrechen hat kein Alter - senkt die volle Strafbarkeit auf 14 Jahre." Die Unterschriftenliste, die an der Sicherheitsschleuse ausliegt, wird vermutlich bald voll sein. Denn wer jenseits der Schlagbäume wohnt, plädiert für höchste und härteste Strafen.

38 000 Einwohner, verteilt auf 19 Wohnbezirke, Universität, zwei Dutzend Banken, Privatklinik, eine Hunderschaft Zahnärzte, 470 Sicherheitsleute, 74 Streifenwagen, 12 Motorräder. Gehsteige, auf denen man Frühstücken kann, dahinter Wohnpaläste in üppiger Botanik. Eine Welt, so schön und neu wie in Aldous Huxleys utopischen Roman: Dies ist Alphaville, die Zitadelle der Alpha-Menschen, jener Kaste der Reichen und Superreichen, zur der sich rund 1.5 Prozent der Brasilianer rechnen dürfen.

Hier draußen, 25 Kilometer vom Zentrum Sao Paulos entfernt, sind sie sicher vor den verarmten Delta-Massen und den Epsilon-Gangs. "Wir hatten in 25 Jahren nur einen einzigen Mord", sagt Protógenes Guimaraes, Präsident der Sektion Alphaville 2. In Sampa werden an manchem Wochenende 70 Leute umgebracht. Guimaraes zeigt das VRC-System, die Videoanlage, die die Bilder jedes Besuchers, Handwerkers oder Dienstboten automatisch speichert. "Aber 100prozentige Sicherheit gibt es auch in Fort Knox nicht."

Das Restrisiko raubt manchen Alpha-Menschen den Schlaf. "Die fürchten sich vor allem und jedem", berichtet die Psychotherapeutin Araceli Martins, "vor den bettelnden Kindern an der Ampel, dem unbekannten Spaziergänger, der eigenen Zugehfrau. Sie werden von der akuten Angst befallen, getötet oder bedroht oder verrückt zu werden. Wir reden von panico virtual." Das urbane Panik-Syndrom.

Häufig kommen Männer aus der Mittelschicht in ihre Praxis, die Angst haben krank oder arbeitslos zu werden und sozial abzustürzen. "In den Condominums wird die Furcht noch größer, weil sich die Menschen immer weiter von der Realität entfernen." Araceli erzählt von einer jungen Patientin, die von einstürzenden Mauern träumt, und vom großen, dunklen Mann, der über den Zaun springt.

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Wird der Alptraum daheim gerade Realität? Drei Uhr nachts. Der Fotograf Henner Frankenfeld erhält einen Anruf aus Johannesburg. Seine Mitbewohnerin weiß sich nicht mehr zu helfen. Die Alarmanlage schrillt. Versucht jemand ins Haus einzubrechen?

Johannesburg, zwanzig Stunden später. Es war nur ein Fehlalarm.

Die Angst vor dem anonymen Eindringling ist eine psychologische Grundfigur der Zitadellengesellschaft. Die Künsterlin Lisa Brice hat sie visualisiert: die bügelnde Hausfrau, dahinter, mit gezücktem Messer, der vermummte Angreifer. Ihr Werk ist in der Johannesburg Arts Gallery zu sehen, aber niemand schaut es an. Der Besuch des Museums ist zu gefährlich geworden. Es liegt wie ein verwaistes Eiland im verwahrlosten Joubert Park. Die Wahrscheinlichkeit, hier am hellichten Tag überfallen zu werden, ist so hoch wie nirgendwo sonst in der Stadt.

Aber einem normalen weißen Bürger würde es ohnehin nicht einfallen, nach down town zu fahren, in dieses schmutzige, morbide, Betonherz von Johannesburg, wo kein Gesetz, keine Regel mehr gilt. Man verbringt seine Freizeit in den Nebenzentren und Suburbs an der Peripherie. Zum Beispiel in der Mauerstadt Sandton City. Gesperrte Straßenzüge, bewachte Wohncluster, Stahlgitter, Büros hinter Stacheldraht. Die Architekten verbrämen die Gebäude gerne mit klassizistischen oder altenglischen Fassaden, um ihnen die Anmutung von Gefängnissen zu nehmen.

Aus der Mitte von Südafrikas reichstem Stadtbezirk erhebt sich die Shopping Mall Sandton Square: Wuchtiges, wehrhaftes Gemäuer, darüber imposante Kaufmannstürme im sienesischen Stil, Regentraufen, die an Kanonenmündungen erinnern, Portale wie bei Dogenpalästen. Im Innern hohe Lichthöfe, venezianische Fresken, Renaissancefenster mit Geranien, eine Piazza, die dem Markusplatz nachempfunden ist. Spötter sagen, sogar die Tauben seien aus Italien eingeflogen worden. Das Ambiente, die Waren, das Verhalten - Europa pur. Eine kitschige, protzige, persilweiße Konsum-Zitadelle, die Afrika verdrängen hilft und die Afrikaner durch astronomische Preise ausgrenzt.

"Die meisten Schwarze können sich diesen Luxus hier nicht leisten", sagt der Sportreporter Nelson Rashava. "So wird die politische Apartheid durch die ökonomische ersetzt." Obwohl seit dem Ende der Rassentrennung 1994 einige Afrikaner in die Mittel- und Oberschicht aufgestiegen sind, sei das Gefälle zwischen schwarz und weiß, arm und reich noch steiler geworden, stellte eine aktuelle Studie fest.

Das wohlhabende Südafrika lebt im Ausnahmezustand. Infrarotsensoren, Kampfhunde, Kameras, bewaffnete Sicherheitsdienste, der Revolver auf dem Nachtkästchen gehören zum Wehrarsenal. Hausfrauen führen Karteien mit Fingerabdrücken, um Handwerker und Hausangestellte im Ernstfall zu überführen. Ein verrückter Tüftler hat zur Abwehr von carjackers, Autoentführern, ein Fahrzeug mit Flammenwerfer gebaut.

Die höchste Mordrate, die meisten Vergewaltigungen, ein Spitzenplatz bei Raubüberfällen - statistisch gesehen zählt Johannesburg zu den kriminellsten Orten der Welt. "It's jungle out there", sagt ein Hausbesitzer. Ein Dschungel da draußen, bewohnt von Bestien. Viele Weiße reagieren so hysterisch wie er. Daß die Mehrzahl der Opfer schwarz ist und in den Townships lebt, nehmen sie nicht zur Kenntnis. Das Zitadellen- bewußtsein kreist in der Wahnvorstellung einer immerwährenden, allgegenwärtigen Gefahr.

Allein im östlichen Verwaltungsbezirk von Johannesburg wurden in circa zweihundert Vierteln sämtliche Zufahrten durch Schranken und Stahlzäune gesetzeswidrig abgeriegelt. Innerhalb der Sperrzonen gehen block watches, Bürgerpatrouillen, auf Streife. Im Januar wurde die Verbarrikadierung ganzer Stadtteile legalisiert. Die wachsende Kriminalität sei oft nur ein Vorwand für den Rückzug ins selbstgewählte Getto, sagen Soziologen. In Wahrheit gehe es darum, eine Grenze zwischen sich und der Dritten Welt zu ziehen. Man hat Angst vor Anarchie, Gewalt, Verfall. Am Kap gibt es dafür ein Wort: Afrikanisierung.

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"Achtung, Sir!" schreit der Fahrer und reißt das Steuer herum. Das Taxi saust zentimeterscharf an einem liegen gebliebenen Fahrzeug vorbei, das im Abgasnebel kaum zu erkennen war. "Ich will, daß Sie Lagos überleben." Im nächsten Moment ein dumpfes Krachen hinter uns. Ein nachfolgender PKW ist soeben in das Pannenauto gerast. Kurz darauf herrscht Stillstand auf der Third Mainland Bridge. Stau auf acht Autobahnspuren, brüllende Hitze, 15 Meter unter uns eine stinkende Lagune, acht Kilometer vor uns die Hochhaus-Silhouette von Lagos.

Zwei Stunden später sind wir in der Gegenwelt. Wo die Klimaanlagen surren. Wo der Müll entfernt und das Verbrechen bekämpft. Wo es richtige Hospitäler gibt, Delikatessläden, Fitnessstudios und Galerien, Boutiquen und Restaurants. Victoria Island, die Zitadelle der Reichen und Ausländer. Hier kann man sich den Moloch Lagos vom Leibe halten, die größte, schmutzigste, gefährlichste Großstadt Afrikas.

Die "Victorianer" schicken nur ihre Boten, Diener und Chauffeure hinaus ins Chaos, denn jeder normale Mensch verliert in diesem Labyrinth von Hausruinen und Hütten die Orientierung. Der Stadtplan ist unbrauchbar, die Straßenschilder wurden irgendwann in nützlichere Gerätschaften verwandelt, in Kehrschaufeln oder Dachplatten. Und so wie jedem Fremden immer wieder die Koordinaten verrutschen, entzieht sich dieses Stadtwesen jeder Beschreibung.

Lagos ist ein urbanes Geschwür, durchädert von giftigen Kloaken, übersät mit Müll- schwären, erstickt unter einer milchblauen Smogdecke, zerschnitten von Straßenarterien, durch die sich Autoschlangen quälen. Eine Megalopolis der Dritten Welt, unregierbar, anarchisch, gewalttätig, geplagt von Elend und Krankheit, endzeitlich anmutend.

Das Leben in solchen Städten sei "arm, ekelhaft, vertiert und kurz" befindet Robert Kaplan. Den europäischen Geschäftsleuten und Diplomaten - Touristen trifft man so gut wie nie - muß Lagos erscheinen wie dem amerikanischen Star-Essayisten, der in den Metropolen Westafrikas den Untergang der Menschheit heraufdämmern sieht. Man fürchtet dieses wilde, lärmende, ungezügelte Gewese da draußen, die "ameisenhaften" Massen, die lungernde, arbeitslose, kraftstrotzende Jugend, die verrotzten Straßenkinder, die räudigen Hunde, die Myriaden von tödlichen Bakterien und Viren, die fauligen Tümpel, in denen sich die Larven der Malaria-Mücken mästen. Nicht zu reden von der Kriminalität und den Gewaltexzessen. Vorigen November, nach ethnischen Zusammenstößen zwischen Yoruba und Haussa, lagen 50 verstümmelte, verkohlte Leichen in den Straßen des Viertels Ketu. Traumatische Tropen.

Diese Unbilden versuchen jeden Tag in die heile Welt auf Victoria Island einzudringen. Vor den Malls lagern Bettler und Krüppel. In den Bars verkaufen HIV-positive Mädchen ihre Körper. An verstopften Straßenkreuzungen werden die Autofahrer von fliegenden Händlern und Taschendieben umschwirrt. Und jeden Tag ziehen Hunderte von Bittstellern an den Eleke Crescent, der an die Pforten des Wohlstandsparadieses führt, zu den Botschaften der gelobten Länder Amerika, England, Italien, Dänemark, Deutschland.

In der sichelförmigen Einbahnstraße herrscht striktes Haltevorbot; Zuwiderhandelnde werden sofort von Militär- patrouillen verscheucht. Festungsmauern, Natodraht, silbernes Stahltor, Kameraaugen, vor der ersten Schleuse eine lange Warteschlange, die sich durch eine Art Viehgatter windet: die deutsche Mission, wie ein Raumschiff auf afrikanischen Boden gelandet, bewacht von sechs BGS-Männern. Sie gehört zu den äußersten Grenzschutzanlagen gegen den Ansturm aus den Armenhäusern des Südens.

Stahldrehtür, elektronischer Taststab, frostiger Beamtenton. In der zweiten Schleuse treffen wir Emmanuel Aché, einen Sozialarbeiter. "Die Kontrollen sind hier schärfer als in Kirikiri." Kirikiri ist das Hochsicherheitsgefängnis von Lagos.

Ein Diplomat zeigt uns die Decke des Konferenzraums. "Hier, sehen Sie, Einschüsse. Eine wilde Ballerei, neulich auf dem Ahmadu Bello Way, der hinten vorbeiführt." Ist es verwunderlich, daß sich die Beamten mitunter bedrängt, bedroht, belagert fühlen? Daß sie angesichts der zahlreichen Asylschwindler und falschen Geschäftsleute, die Tag für Tag anklopfen, zynisch reagieren? Daß sie sich zurückziehen in ihre Wohnbunker?

Wie die Menschen in der Megastadt Lagos überleben, sprengt ohnehin die europäische Vorstellungskraft, und vor ihrer Zahl muß jede Statistik kapitulieren. Neun Millionen? Elf? Vielleicht schon dreizehn? Niemand weiß es.

"Das Individum existiert nicht mehr", erklärt ein Handelsattaché, der auf Ikoyi, der zweiten Wohlstandsinsel, lebt. In seinem Garten liegt eine lange Stange. Sie wird gebraucht, wenn es vor seiner Dependance direkt an der Lagune wieder einmal unerträglich stinkt. Der Hausdiener muß die Tierkadaver, die sich an der Uferkante verheddert haben, ins offene Wasser hinausschieben. Oder die Überreste von Menschen. "Acht Wasserleichen in dreieinhalb Jahren. Die erste habe ich noch gemeldet. Aber die Polizei interessiert das nicht." Die Toten sind nirgendwo registriert. Keiner vermißt sie.

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Leichen sind auf dem Jukskei noch nicht vorbeigetrieben, aber Möbel, Dachplatten, Töpfe. Sie stammen aus den Blechhütten von Alexandra, der Schwarzensiedlung zehn Kilometer stadteinwärts. Nach drei Wochen Dauerregen ist das Flüßchen zu einem reißenden Strom angeschwollen. Seine Fracht erinnert die Bewohner von Dainfern, Johannesburg, an das andere, das bitterarme Südafrika, das gerade von einer Flut heimgesucht wird. Aber dieses Land wollen sie nicht kennen. Es liegt weit weg, irgendwo in der Dritten Welt.

Die feinen Bürger von Sandton, der Schwestergemeinde von Alexandra, weigern sich beharrlich, höhere Steuern und Abgaben zu zahlen, mit denen die Slums saniert werden sollen. Denn dort fehlt es nach vierzig Jahren Apartheid an allem, was zu einer menschenwürdigen Infrastruktur gehört: Stromnetz, Wasseranschlüsse, Kanalisation, Ambulanzen. Die Begründung, warum die Mehrzahl der Privilegierten nicht teilen will, kann man im Anzeigenblatt Sandton Chronicle studieren. Korruption in der Stadtverwaltung. Gehälter der Ratsherren explodieren. Raffgierige Politiker, Bestechlichkeit, Schlamperei. Zwischen den Zeilen die Frage: Warum eigentlich noch Steuern zahlen?

George Hazeldon denkt noch radikaler. Der Spekulant plant in der Kap-Provinz ein voll- integriertes Stadtfort mit Malls, Kliniken, Krematorium, Polizeitruppe und Leicht- industrie. Niemand mehr soll die Wehrsiedlung verlassen müssen. Hazeldon will sie Heritage Park nennen, Heimatpark. Darin werde "eine Gemeinde ohne Sorgen leben. Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Dies ist nicht Stalag 15." Das Vorbild sei vielmehr Mont Saint Michel - die mittelalterliche Kloster-Zitadelle in der Bretagne.

"Diese Gemeinde würde sich von Rest der Gesellschaft vollkommen isolieren", sagt der Stadtrat Heinrich Magermann. "Im neuen Südafrika wollen wir eine solche Seggregation nicht mehr. Aber leider, diese Leute zeigen keine Loyalität."

Diese Leute, die mit dem Ruf des Kiebitz einschlummern und vom Murmeln eines Baches geweckt werden. Die von "us" und "they" sprechen, von "uns", den Zivilisierten, und "ihnen", den Barbaren. Aber wenn sie ihre Zitadellen verlassen ahnen sie, daß irgendetwas nicht stimmt. Und nachts mag sie manchmal jenes Unbehagen beschleichen, das der Industrielle Anton Rupert einmal formuliert hat: "Wenn dein Nachbar hungert, kannst du nicht ruhig schlafen."

***



Der Text ist am 18. Mai 2000 in der Weltwoche erschienen.

BARTHOLOMÄUS GRILL ist Afrika-Korrespondent für DIE ZEIT (Hamburg), Weltwoche (Zürich) und profil (Wien), wohnt und arbeitet in Johannesburg und Kapstadt, berichtet aus 48 afrikanischen Ländern. Gelegentlich bereist er die Nachbarkontinente der südlichen Hemisphäre, Südamerika und Asien, und sendet Depeschen aus der Peripherie in das Zentrum der Welt.


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